Die Krise der privaten Rente verschärft sich – für die Kund*innen


Immer mehr Anbieter wollen keine Rentenversicherungen mit Garantie mehr anbieten. Für die Versicherten heißt das: Börsenspekulation statt sicherer Vorsorge.
Aktualisiert 21.12.2020, 15:30

Sichere Verzinsungen sind bei Lebensversicherungen ein Auslaufmodell. Erst haben Allianz und Ergo den Abschied von Sparprodukten mit Garantieverzinsung angekündigt, nun folgen zwei weitere Schwergewichte der Branche: Die Alte Leipziger und die R+V.

Es dürfte künftig nicht so einfach sein, einen Anbieter zu finden, der bei Neuverträgen noch das anbietet, worauf sich in der Vergangenheit viele Millionen Kunden verlassen haben: Ein Produkt, das nach jahrzehntelanger Beitragszahlung, die Kundengelder sicher und solide verzinst zurückzahlt und womöglich noch eine Überschussbeteiligung drauflegt. Mit anderen Worten: die klassische Lebensversicherung gibt es praktisch nicht mehr. Sie wurde zunächst – auch auf Druck der Bundesregierungen – in eine Privatrente umgewandelt. Jetzt wird sie praktisch beerdigt.

Zurück bleiben im Portfolio der Versicherungen Zockerprodukte, die in Aktien investieren und den Kunden hohe Renditen versprechen, die aber nach vielen Jahren noch nicht mal den Beitragserhalt der eingezahlten Gelder gewährleisten. Beim Marktführer Allianz gibt es Produktvarianten, die nur noch 60 Prozent der eingezahlten Beiträge garantieren. Wozu braucht man da noch eine Versicherung? Die Frage stellt sich inzwischen selbst Bert Rürup, einer der Hauptgestalter der Schröderschen Rentenreformen und des sogenannten Dreisäulenmodells. Vor drei Wochen hat Rürup dieses Modell für gescheitert erklärt.

Weder die zweite Säule (betrieblichen Altersvorsorge) noch die dritte Säule (Riester-Renten und andere) kann zuverlässig die Lücke schließen, die dadurch gerissen wurde, dass man die gesetzliche Rente bewusst beschnitten hat. Beide Säulen sollten eigentlich auf verzinsten Beiträgen und dem garantierten Beitragserhalt basieren. Organisiert wurden und werden sie in der Regel von den Lebensversicherern Allianz & Co. Doch das Modell ist gescheitert. Schuld ist eine geradezu toxische Mischung aus hohen Kosten und der andauernden Niedrigzinsphase. Nun weigern sich die Konzerne – siehe oben – zunehmend, überhaupt noch neue Verträge dieser Art abzuschließen.

Auch mit den Bestandskunden, die in der Vergangenheit den Versprechungen von Finanzwirtschaft und Bundesregierung vertraut hatten, gehen die Konzerne schlecht um. Für 2021 haben die meisten Versicherer erneut die laufende Verzinsung abgesenkt. Sie liegt demnächst in sehr vielen Fällen bei rund 2 Prozent und im Fall der R+V a.G. sogar nur bei 1,25 Prozent.

Und das klingt sogar noch besser als es ist: Die Zinsen werden nicht auf alle Einzahlungen gewährt werden, sondern nur auf den Sparanteil, der nach Abzug von Kosten und Risikoschutz verbleibt. Daher liegt die tatsächliche Rendite auf die eingezahlten Beiträge noch erheblich niedriger. Bitteres Fazit: angesichts einer langfristigen Inflationsrate zwischen ein und zwei Prozent kann schon heute von einem Werterhalt der eingezahlten Beiträge kaum noch die Rede sein.

Dabei wäre eigentlich sehr viel mehr drin für die Kunden. Denn Geld ist genug da. Trotz der langjährigen Niedrigzinsphase erzielen die Versicherer mit den Geldern ihrer Kunden noch sehr ordentliche Zinsen. 2019 waren es im Schnitt 3,91 Prozent. Wie kann es sein, dass davon bei vielen Kunden weniger als die Hälfte ankommt? Im Prinzip ist die Antwort simpel: Weil niemand die Versicherer zwingt, ihre Kunden fairer zu behandeln.

Begünstigt wird das durch die fast unglaubliche Intransparenz dieser Produkte. Kein Laie kann erkennen, wie viel ihm vorenthalten wird. Erschwert wird das noch durch die lange Laufzeit, die oft unterschiedlich hohen Beitragszahlungen, die Wirkung der Inflation, die völlig undurchschaubaren Kosten von Vertrieb und Verwaltung und die Bilanztricks der Konzerne. Bereits 2015 habe ich zusammen mit Dagmar Hühne im Buch „Garantiert beschissen“ beschrieben, wie „der ganz legale Betrug mit den Lebensversicherungen“ funktioniert.

Berücksichtigt man auch die vielen früh gekündigten Verträge, so machen über die Hälfte der Kunden mit Lebensversicherungen und Privatrenten unterm Strich Verlust. Jahr für Jahr sind es viele Milliarden Euro. Bereits 2012 bezifferte der Bamberger Professor Andreas Oehler diesen jährlichen Verlust auf 16 Milliarden Euro.

Für die Lebensversicherer ist es hingegen durchaus kein schlechtes Geschäft. Sie erzielen Jahr für Jahr milliardenschwere Zins-, Kosten und Risikogewinne. Man kann sie in der Statistik der Aufsichtsbehörde Bafin nachlesen, aber an recht versteckter Stelle: In Tabelle 141 (Gewinnzerlegung) der Statistik der Erstversicherungsunternehmen (Tabellenteil Lebensversicherungen). Doch diese Mühe machen sich die Redaktionen der Qualitätspresse offenbar nicht, denn von den gewaltigen Überschüssen der Lebensversicherer liest man in der Regel nichts.

Hier die Details: Für 2019 weist die Bafin-Statistik einen Überschuss von rund 11,3 Milliarden Euro aus. In Wahrheit könnte der Überschuss sogar bei rund 20 Milliarden Euro liegen. Denn viele Milliarden Euro wurden – für die Öffentlichkeit nicht sichtbar – zuvor aus den Zinsgewinnen in die sogenannte Zinszusatzreserve verschoben. Diese Reserve wurde 2019 mit zusätzlichen 9,5 Milliarden Euro bestückt. Offiziell ist die Zinszusatzreserve ein Reservetopf, der auch künftig die Zuteilung von Garantiezinsen sichern soll. Tatsächlich senkt sie aktuell die Höhe der ausgewiesenen Überschüsse und verhindert so, dass den Versicherten heute mehr Geld zugeteilt oder ausgezahlt wird. Ob diese Kunden je etwas von der Reserve haben werden, ist höchst ungewiss. Fest steht: Ob offen ausgewiesen oder nicht, die Lebensversicherungsbranche gehört zu den profitabelsten Wirtschaftszweigen überhaupt.

Doch wo landet das Geld? Ein Teil geht tatsächlich an die Kunden, um die in der Vergangenheit garantierten Zinsen auf den Sparanteil zuzuteilen. Ein anderer Teil landet in Form von Dividenden oder Gewinnabführungen bei den Eigentümern der Lebensversicherungen. Ein dramatisch wachsender Teil landet jedoch in obskuren Reservetöpfen: in der sogenannten „freien RfB“, dem Schlussüberschussfonds, den Bewertungsreserven oder der Zinszusatzreserve. Dazu hat uns Axel Kleinlein, der Chef des Bundes der Versicherten, bereits 2015 erklärt: „Die Bundesregierung und die Aufsichtsbehörde Bafin geben den Versicherungen einen Freibrief, unglaublich viele Milliarden Euro in Schattenhaushalten zu verstecken […] und kein Kunde kann sehen, ob und wie viel ihm vorenthalten wird.“

Fakt ist: Allein in der Zinszusatzreserve stecken branchenweit derzeit 87 Milliarden, wenn man dem Branchenverband GDV glaubt, oder sogar knapp 100 Milliarden Euro, wenn der Bund der Versicherten richtig liegt. Alle Reservetöpfe zusammen könnten branchenweit sogar 200 Milliarden Euro umfassen. Und das Problem dabei: Kein Kunde kann sicher sein, davon auch nur einen einzigen Cent zugeteilt zu bekommen.

Bleibt die Frage: Wenn das klassische Geschäftsmodell für die Lebensversicherer so erfolgreich war, weshalb ziehen sie sich daraus Stück für Stück zurück? Die Antwort ist wenig überraschend: Weil das neue Geschäftsmodell vermutlich noch lukrativer ist. Die Kunden sollen künftig aktienbasierte Verträge abschließen. Damit tragen sie das nahezu alleinige Risiko. Die Versicherung muss keine Garantiezinsen zahlen und nach Jahrzehnten noch nicht mal für die eingezahlten Beiträge geradestehen. Und die Möglichkeiten überzogene Kosten abzurechnen und Gewinne zu erzielen, erscheinen bei diesen komplexen Produkten größer als je zu vor.

Eigentlich läuft die Sache mit der privaten Vorsorge gar nicht so schlecht: Für die Versicherungen. Nur nicht für die Kunden.

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