Nein, die Medien übertreiben nicht bei den Corona-Zahlen
Es gebe "Alarmismus" beim Thema Corona – das kritisieren auch manche Linke. Doch die Argumente der Kritiker sind nicht überzeugend. Tatsächlich stehen wir gerade an der Schwelle zu einer gefährlichen Entwicklung.
10. Oktober 2020, 11:00 Uhr

Übertreiben es die etablierten Medien mit Warnungen vor dem Coronavirus? "Panikmache" – solche Kritik kommt nicht nur aus dem rechten Lager, sondern wird auch von manchen Linken geäußert. Beispielsweise hat diese Woche die Website Nachdenkseiten kritisiert: "Wieder einmal wird mit absoluten Zahlen eine 'Eskalation' der Lage suggeriert, die sich durch die Daten schlicht nicht nachvollziehen lässt."call_made Die Nachdenkseiten reagieren damit auf den Tagesspiegel, der gewarnt hat, dass die Zahl der Intensivpatienten deutlich steige.

In zwei Hintergrund-Artikeln haben die Nachdenkseiten wichtige Argumente der Kritiker zusammengefasst: Zu Deutschlandcall_made und zu Europacall_made. Auf den ersten Blick ist manche Kritik berechtigt: Die Einwände kommen in den etablierten Medien zu kurz. Doch bei genauerem Hinsehen können beim Thema Coronavirus die Argumente der Medienkritiker nicht überzeugen. Hier eine kurze Analyse zu drei zentralen Argumenten:
1. Es gebe in Deutschland keine erhöhte Sterblichkeit

Das Coronavirus habe in Deutschland nicht zu einer so genannten "Übersterblichkeit" geführt, es seien also insgesamt nicht mehr Menschen gestorben als in den Vorjahren. Auf den ersten Blick stimmt das sogar: Bisher hat das Statistische Bundesamt für das Gesamtjahr 2020 keinen deutlichen Anstieg der Sterbefälle festgestellt. Doch das ist kein Grund zur Entwarnung:
Selbstverständlich gab es zusätzliche Todesfälle durch das Coronavirus, doch sie wurden durch einen anderen Effekt ausgeglichen: Seit März 2020 haben die Maßnahmen gegen Covid-19 gleichzeitig auch andere Krankheiten zurückgedrängt. Und selbst relativ harmlose Infektionskrankheiten können bei älteren Menschen einen tödlichen Verlauf nehmen. Durch Abstandhalten, Händewaschen und Zuhausebleiben wurden insbesondere viele Atemwegserkrankungen verhindert, und damit auch viele Todesfälle. Akribisch erfasst wird das bei den Grippeviren. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts war die Grippewelle in diesem Jahr bereits in der Woche vom 16. bis 22. März zu Ende. Sie war damit zwei bis vier Wochen kürzer als in den Vorjahren. Die Welle ebbte genau in der Zeit ab, als die Kontakte in Deutschland massiv heruntergefahren wurden: Menschen hielten Abstand und blieben zu Hause. Theater, Konzerthäuser und Kinos stellten den Betrieb ein. Bereits am 13. März hatten fast alle Bundesländer ihre Schulen und  Kitas geschlossen.
Auch wenn man jede einzelne Gegenmaßnahme diskutieren kann (und sollte), ist eines klar: Ohne entschiedenes Gegensteuern gäbe es in Deutschland seit März eine unkontrollierte Covid-19-Epidemie. Ältere Menschen wären massenhaft gestorben. Anfang März war die so genannte Reproduktionszahl auf mehr als drei hochgeschnellt. Jede erkrankte Person steckte also drei weitere an (siehe Grafik unten).  Bei dieser Ansteckungsrate verdoppelt sich die Zahl der Erkrankten alle zweieinhalb Tage. Das heißt: Ohne Gegenmaßnahmen hätten wir bereits Anfang April mehrere Millionen Infizierte in Deutschland gehabt. Zum Vergleich: Aktuell gibt es in Deutschland rund 37.00 aktive Fälle (Stand 10. Oktober).
In den USA kann man seit Monaten in Echtzeit beobachten, was passiert, wenn man nicht entschieden gegensteuert. Freiblatt hat im März in diesem Artikel davor gewarnt, dass die Zahl der Fälle in den USA explodieren wird. Und genau das ist eingetreten: Inzwischen gibt es in den USA 214.000 Corona-Todesfälle. Zudem: Auch in vielen Bundesstaaten der USA wurden drastische Gegenmaßnahmen ergriffen. Sonst wäre die Zahl der Toten noch weit höher.
Der oft gehörte Einwand, dass die Verstorbenen häufig Vorerkrankungen hatten, ist nicht stichhaltig: Betroffene können mit vielen dieser Vorerkrankungen jahrelang weiterleben. Lebensbedrohlich wird es oft erst in Kombination mit einer Corona-Infektion. Beispiele dafür sind Diabetes (8 Millionen Betroffene in Deutschland) oder Herzschwäche (knapp 2 Millionen).
2. Das Beispiel Schweden zeige, dass man keine starken Gegenmaßnahmen benötige.
Entgegen der landläufigen Meinung hat Schweden ebenfalls entschieden gegengesteuert, und zwar auch mit staatlichen Vorschriften: Öffentliche Zusammenkünfte und Veranstaltungen von mehr als 50 Personen wurden verboten. Schulen ab Klasse neun und Universitäten mussten ihre Pforten schließen und auf Onlinelehre und Homeschooling umstellen. Besuche in Altenheimen waren sechs Monate lang verboten, sogar für die engsten Angehörigen.
Zusätzlich hat die schwedische Regierung auf die Einsicht der Bevölkerung gesetzt: Immer wieder gab es Appelle, die Menschen sollten Abstand halten, auf Reisen verzichten und im Homeoffice arbeiten. Das zeigte Wirkung: Auch in Schweden wurde das öffentliche Leben so stark zurückgefahren, dass die Umsätze vieler Unternehmen einbrachen und Außenministerin Ann Linde warnte, die Arbeitslosigkeit werde voraussichtlich dramatisch steigen.
3. Seit Monaten seien viele Betten in den Intensivstationen leer geblieben.

Das ist faktisch richtig: Auch Anfang Oktober stehen in Deutschland noch mehr als 8.500 Intensivbetten leer, während gleichzeitig nur 510 Corona-Erkrankte auf der Intensivstation behandelt werden. Und das, obwohl die Corona-Fallzahlen schon seit mehreren Wochen ansteigen. Doch der hohe Leerstand bei den Intensivbetten ist trügerisch:
Der bisherige Anstieg der Fallzahlen hat sich noch gar nicht voll auf den Intensivstationen bemerkbar gemacht. Ein schwerer Verlauf der Krankheit zeigt sich häufig erst nach vielen Tagen. Werden die Betroffenen dann auf die Intensivstation verlegt, müssen sie dort manchmal wochenlang behandelt werden. Das bedeutet: Jede Woche werden zusätzliche Betten langfristig blockiert. Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie an der München Klinik Schwabing, hat davor bereits im April gewarnt: "Das müssen wir mit Blick auf eine mögliche zweite Infektionswelle dringend berücksichtigen. Auch wenn die Zahl der Neuinfektionen und Neupatienten konstant bleibt, füllen sich die Intensivstationen nach und nach, weil die Patienten lange dort bleiben."
Zudem bleibt im Moment die Zahl der Neuinfektionen ja gerade nicht konstant, sondern geht steil nach oben. Falls bald jede erkrankte Person wieder 1,5 oder 2 weitere ansteckt, verdoppelt sich alle paar Tage die Zahl der Erkrankten.
Ein einfaches Rechenbeispiel zeigt, was das für die Intensivstationen bedeutet: Wenn in einer Woche 500 Erkrankte eingeliefert werden, können es in der Folgewoche schon 1.000 weitere sein, in der darauffolgenden Woche 2.000, in der vierten Woche schließlich 4.000.  Das Tückische daran: Wenn man in der ersten Woche noch 5.000 freie Betten hat, wirken 500 neue Fälle zunächst nicht beunruhigend. In der vierten Woche jedoch benötigt man bereits mehrere tausend Betten. Genauer: Auch wenn alle Erkrankten bereits nach zwei Wochen aus der Intensivstation entlassen werden, wären in der vierten Woche 6.000 Betten notwendig.
Das sind alles keine theoretischen Zahlenspiele, sondern es ist die grundlegende Dynamik von Krankheiten, deren Verbreitung exponentiell ansteigt: Ohne Gegenmaßnahmen liegt der R-Wert von Covid-19 zwischen 2,4 und 3,3. Jede erkrankte Person würde also im schlimmsten Fall mehr als drei Personen anstecken, und die Zahl der Fälle sich alle zweieinhalb Tage verdoppeln.

Fazit:


Die Kritiker beklagen zu Recht, dass die etablierten Medien zu wenig über Sinn und Unsinn der einzelnen Maßnahmen diskutieren. Es geht ja darum, dass zur Zeit zentrale Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Deswegen sollte natürlich jede einzelne Einschränkung diskutiert werden: Ist sie überhaupt sinnvoll? Bringt eine mildere Maßnahme eventuell sogar mehr? Und brauchen nicht erstmal die Ämter deutlich mehr Personal, damit sie überhaupt in der Lage sind, die bereits vorhandenen Regeln durchzusetzen und Infektionsketten sofort zu verfolgen?

Doch die Gefahr einer Epidemie in Deutschland steigt gerade massiv an. Das Virus ist überall aktiv. Jetzt, da die Kontakte wieder enger und häufiger geworden sind, droht erneut ein exponentieller Anstieg der Infektionen. Wir stehen also vor einem Experiment mit ungewissem Ausgang. Zudem haben wir noch keine Erfahrung, wie stark der Winter die Ausbreitung des Virus in Deutschland beschleunigt, wenn sich das Leben vor allem in Innenräumen abspielt. Die steigenden Fallzahlen in Frankreich, den Niederlanden, Spanien, und jetzt auch in Deutschland sind deutliche Warnzeichen. Sie zu beachten ist klug, und keine "Panikmache".

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