Diese drei Zahlen zeigen,
wie stark unser Rentensystem beschädigt worden ist.



Man könnte es die neue Rentenformel nennen: 40-130-200. Über diese drei Zahlen reden jene Lobbyisten nicht gern, die seit mehr als 20 Jahren die deutsche Alterssicherung umgekrempelt haben.
Aktualisiert 06.12.2020, 15:13

Die drei Zahlen zeigen auf, wie stark das deutsche Rentensystem deformiert wurde, und wie sehr Arbeit­geber und Versicherungskonzerne davon profitiert haben. Ihre Lobby hat sich durchgesetzt. Politiker und Wissenschaftler haben mitgemacht. Was haben wir dadurch bekommen? Ein System, in dem das Niveau der gesetzlichen Rente deutlich heruntergefahren wurde. Ein System, das die private Vorsorge als alternativlos preist und dafür erhebliche staatliche Fördermittel lockermacht. Ein System, das der Versicherungswirtschaft Jahr für Jahr Millionen neue Verträge beschert. Und ein System, das den Arbeitgebern Ersparnisse in Milliardenhöhe gebracht hat.

Doch der Reihe nach.

Da ist erstens die Zahl 40:
Für die meisten Versicherten ist die gesetzliche Rente inzwischen real rund 40 Prozent weniger wert, verglichen mit der Gesetzeslage von 1990. Diese 40 Prozent Wertverlust sind nicht etwa durch die demografische Entwicklung bedingt. Sie sind das Ergebnis einer bewussten Entscheidung: Die Politik hat in den vergangenen 30 Jahren einerseits die Rentenanwartschaften gnadenlos gekürzt und andererseits viele Milliarden Euro umgeleitet, weg aus der gesetzlichen Rente, hin zu privaten Rentenverträgen. Quasi ein Konjunkturprogramm für Versicherungen, Banken und Fondsgesellschaften.

Denn die Zahl 40 steht auch für 40 Milliarden: So hoch sind die Subventionen, die der Staat inzwischen gezahlt hat, damit die Deutschen Riester-Verträge unterschreiben. Seit 2002 können Riester-Renten abgeschlossen werden, mit hohen staatlichen Zulagen. Besserverdiener bekommen zu diesen Zulagen obendrein noch Steuervorteile. Alles in allem summieren sich die Subventionen des Staates für Riester-Verträge allein von 2002 bis 2017 auf mehr als 40 Milliarden Euro. Ob diese Gelder wirklich bei den Versicherten ankommen, ist zweifelhaft. Viele Milliarden verschwinden im Kostendschungel der Konzerne. Laut einer Untersuchung der Bürgerbewegung "Finanzwende" gehen bei einer typischen Riester-Versicherung 24 Prozent der Einzahlungen für Kosten drauf.

Zweitens die Zahl 130: Seit 2002 haben die Deutschen 130 Millionen Renten- und Lebensversicherungen abgeschlossen. Die Versicherungswirtschaft hat nicht nur massenhaft Riester-Verträge verkauft, sondern auch jede Menge Renten- und Lebensversicherungen: Rürup-Renten, Privatrenten mit klassischem Kapitalstock oder als fondsgebundene Versicherung in allen ihren Varianten. Alles mit gütiger Verkaufshilfe der deutschen Bundesregierung. Jahr für Jahr kassieren Vertreter und Makler Provisionen in Milliardenhöhe für die Vermittlung dieser Verträge. Gezahlt letztlich von den Kunden, denen diese Gelder für den Aufbau einer Altersvorsorge fehlen. Viele Kunden haben bereits erkannt, dass diese Verträge für sie höchst ungünstig sind oder dass sie sich gar nicht leisten können. Die Stornoquote ist enorm.

Drittens die Zahl 200, genauer 200 Milliarden. Das sind die Ersparnisse der Arbeitgeber durch den Umbau der deutschen Alterssicherung. Die deutschen Arbeitgeber gehören zu den Hauptnutznießern beim Umbau des Rentensystems. Ihnen konnte der Staat aufgrund zahlreicher Eingriffe in die Rente einen künstlich niedrig gehaltenen Rentenversicherungsbeitrag garantieren. Dieser beträgt heute 18,6 Prozent und liegt damit niedriger als zu Zeiten der deutschen Vereinigung, trotz deutlich gestiegener Rentnerzahlen und einer höheren Lebenserwartung. Dieser niedrige Beitragssatz war die Haupttriebfeder für die Rentenreformen. Die aufsummierten Vorteile für die deutschen Arbeitgeber liegen bei schätzungsweise 200 Milliarden Euro.

Zwar haben auch die Arbeitnehmer vom niedrigeren Beitrag profitiert, doch dieser Vorteil wurde wieder zunichte gemacht durch die Belastung für die private Vorsorge. Die Arbeitnehmer sollen sowohl in Riester-Verträge einzahlen, als auch in eine neue Form der "Betriebsrente": Eine, die gar nicht vom Betrieb finanziert wird, sondern von den Arbeitnehmern selbst, über die so genannte "Entgeltumwandlung". So empfiehlt es die Bundesregierung. Die Arbeitgeber werden von dieser Form der privaten Vorsorge entweder gar nicht oder nur minimal belastet. So bleibt ihnen fast ungeschmälert der Vorteil der niedrigen Arbeitgeberbeiträge.

Die Formel 40-130-200 steht also erstens für den Niedergang der gesetzlichen Rente, zweitens für den Verkaufserfolg der privaten Finanzdienstleister und drittens für den Erfolg der Arbeitgeber. Letztere haben sich aus der paritätischen Finanzierung der Alterssicherung verabschiedet und damit gewaltige Summen gespart. Doch der Sinn und Zweck von Alterssicherung sollte ja ein anderer sein: Den Beschäftigten im Alter ein Leben in Würde und frei von Armut zu garantieren.

Daher wäre die Formel 45-65-80 viel sinnvoller. Sie beschreibt die Alterssicherung in Österreich. Nach 45 Versicherungsjahren sollte ein Versicherter im Alter von 65 in Rente gehen und dann 80 Prozent seines im Berufsleben erzielten Nettoeinkommens bekommen. Die Ergebnisse dieser Formel sind frappierend: 2019 erhielten die österreichischen Männer eine Durchschnittspension in Höhe von 2.359 Euro monatlich, das sind jeden Monat gut 1.000 Euro mehr als hierzulande, wenn man es auf die in Deutschland üblichen 12 Zahlungen pro Jahr umrechnet, denn in Österreich gibt es auch Urlaubs- und Weihnachtsgeld für Rentner. Die Frauen in Österreich bekommen umgerechnet 1.362 Euro, auch das ist über 500 Euro mehr als in Deutschland.

Wie ist so etwas möglich? Es funktioniert, weil die Österreicher voll auf die gesetzliche Rente setzen. Auf die teure und für die Versicherten ungünstige private Vorsorge haben sie verzichtet. So konnten sie das Niveau ihrer Rente halten. Sie verlangen dafür mit 22,8 Prozent einen deutlich höheren Beitragssatz als Deutschland. Die Beiträge werden nicht etwa zu gleichen Teilen von Unternehmen und Beschäftigten erbracht. Die Arbeitgeber zahlen in Österreich mit 12,55 Prozent deutlich mehr als die Arbeitnehmer, die „nur“ 10,25 Prozent beitragen.

Es ist also genau andersherum als in Deutschland: Während die Unternehmen die Altersicherung hierzulande als Sparvehikel nutzen, übernehmen sie in Österreich eine stärkere Verantwortung. Und noch etwas ist anders in der Alpenrepublik: Getragen wird die staatliche Alterssicherung in Österreich von allen Erwerbstätigen. Auch Selbstständige und Beamte zahlen ein. Das was bei uns als Erwerbstätigenversicherung von einigen Sozialverbänden, Gewerkschaften und Parteien gefordert wird, ist in Österreich bereits Realität. Das schafft mehr Gerechtigkeit und eine breitere Finanzbasis.

45-65-80, das wäre auch für Deutschland eine vorbildliche Formel.

Demnächst im Freiblatt: ein Vergleich der europäischen Alterssicherungssysteme.

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