Rentenwende in der CDU?
Blüms Erben kämpfen gegen den Wirtschaftsflügel





Nach drei verlorenen Jahrzehn­ten keimt so etwas wie Hoffnung in Sachen Rente: Der Sozialflügel der CDU zeigt Reform­bereit­schaft. Könnte eine schwarz-grüne Regierung etwas bewegen? Wie der aktuelle Armuts­bericht des Paritätischen zeigt, wären Fortschritte dringend nötig. Doch der Wider­stand gegen Reformen ist erbittert.
Aktualisiert 26.11.2020, 11:35

Die Bestandsaufnahme ist erschütternd: Über 13 Millionen Menschen in Deutschland gelten nach dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes als arm. Ein Rekord.

Anders als es uns die Lobbyisten der Arbeitgeberseite glauben machen wollen, sind die Rentner schon heute überdurchschnittlich von Armut betroffen. Jeder fünfte Rentnerhaushalt reißt die Armutsschranke des statistischen Bundesamtes. Im vergangenen Jahr war das bei bei Alleinstehenden 1.074 Euro monatlich, bei Paaren 1.611 Euro, inklusive aller Nebeneinkommen.

Dieser Anteil wird schon in wenigen Jahren dramatisch steigen. Das liegt vor allem an den viel zu niedrigen Einkommen. Der Mindestlohn reicht bei weitem nicht aus, um Altersarmut zu verhindern. Für rund 10 Millionen Jobs wird ein Stundenlohn von weniger als 12 Euro gezahlt. In Ostdeutschland verdient fast die Hälfte der Beschäftigten so wenig, dass ihnen nach 40 Jahren Arbeit eine Rente blüht, die unter dem Grundsicherungsanspruch liegt.

Hier zeigt sich die Kombination von zwei unseligen Entwicklungen, die in ihrer explosiven Tragweite noch viel zu wenig verstanden wurden: Die Schaffung eines Niedriglohnsektors ohnegleichen und Kürzungen im Rentenrecht von bis zu 40 Prozent (verglichen mit der Gesetzeslage von 1989). Beide Effekte verstärken sich in ihrer negativen Auswirkung auf die Alterssicherung. Sie führen dazu, dass große Teile der heute Erwerbstätigen später von Altersarmut betroffen sein werden. Falls sich nichts ändert.

Wir brauchen also beides: Klare Einkommensverbesserungen und einen deutlich angehobenden Rentenwert. In dem Buch „Rente rauf! So kann es klappen“ haben Dagmar Hühne und ich gemeinsam vorgerechnet, wie ein Rentenwert von 45 Euro dazu führt, dass die Standardrente nach 45 Versicherungsjahren von derzeit 1.538,55 auf 2.025 Euro brutto angehoben werden kann. Außerdem müsste eine Mindestrente dafür sorgen, dass langjährige Versicherte (35 Versicherungsjahre) eine Rente oberhalb der Armutsschwelle erhalten. Und wir haben vorgerechnet, wie man diese Leistungen finanzieren kann.

Bei der aktuellen Bundesregierung haben solche Forderungen keine Chance. Und was wäre nach der nächsten Wahl von einer nicht ganz unwahrscheinlichen schwarz-grünen Koalition zu erwarten? Immerhin bewegen sich Teile der Union in der Rentenfrage völlig überraschend auf die Grünen zu. So veröffentlichten Sozialpolitiker der CDU vor wenigen Tagen ein Konzept, das perfekt zu den Rentenforderungen im neuen Grundsatzprogramm von Bündnis90/Die Grünen passt: Alle rein in die Rentenkasse, auch Beamte, Freiberufler und Selbstständige. Und Rentenbeiträge auf alle Einkommen, also beispielsweise auch auf Kapitaleinkünfte und Mieteinnahmen. Das fordert für viele überraschend nun der CDU-Bundesfachausschuss Soziales, und genau das steht auch im gerade beschlossenen Programm der Grünen.

Der Sozialflügel der CDU fordert auch die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze, die derzeit dazu führt, dass Gutverdiener für einen Teil ihres Einkommens keine Beiträge in die Rentenkasse einzahlen müssen. Auch darüber ließe sich problemlos mit den Grünen reden. Und richtig einig ist man sich bei einer reformierten, kapitalgedeckten zusätzlichen Vorsorge. Die soll die Riester-Rente ablösen und statt dessen in einen preiswerten, zentral gemanagten Fonds fließen (Vorbild: Schweden). So fordern es die Sozialpolitiker der Union, und ganz ähnlich haben es sich die Grünen ins neue Programm geschrieben.

Was bedeutet das? Natürlich ist nicht alles gut, doch sind viele gute Ansätze erkennbar. Das Papier der CDU-Sozialen wurde bereits als Renten­revolution gefeiert. Bei den Grünen, die derzeit inhaltlich Stück für Stück die Voraussetzungen für ein kommendes Bündnis legen, wird man es mit Freude zur Kenntnis genommen haben. Doch viel entscheidender wird sein: Werden die Urheber des Renten­papiers sich gegen den mächtigen Wirtschaftsflügel der Union durchsetzen können?

Die Hardliner haben sich sofort in Stellung gebracht. Sie „reagieren entsetzt“, heißt es in der „Welt“, und der Sozialflügel verspricht den Kritikern sofort, es werde am Konzept „noch erhebliche Veränderungen“ geben. Schließlich sind Forderungen nach einer Erwerbstätigen­versicherung („alle zahlen ein“) und höheren Beiträgen für Besser­verdiener für viele in der Union ein rotes Tuch.

Und wenn man erlebt hat, mit welcher Härte die Union die Grund­renten­pläne von Hubertus Heil bekämpft und letztlich verwässert hat, mag man kaum glauben, dass sich diese Forderungen in der Union durchsetzen. Noch weniger, falls sich im Rennen um den CDU-Vorsitz Friedrich Merz durchsetzen sollte.

Aber immerhin: Ein Signal ist gesetzt, die Erben von Norbert Blüm haben den Kampf noch nicht aufgegeben. Und man kann ihnen nur einen langen Atem und gute Nerven wünschen. Schaffen sie es, wesentliche Punkte innerhalb der Union durchzusetzen, wäre das tatsächlich eine Renten­revolution. Die stückweise Einbeziehung von Beamten und allen Selbstständigen in die Rente würde bei gleichzeitiger Abschaffung der Beitrags­bemessungs­grenze gewaltige finanzielle Spielräume eröffnen. Deutschland könnte sich deutliche Rentensteigerungen leisten und die Geringverdiener endlich vor einem Abrutschen in die Altersarmut schützen. Das wäre zu schön, um wahr zu sein.

Die erste Fassung des Artikels ist am 24.11. um 11:00 Uhr erschienen

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